Von der Sportlerdiät in die Essstörung

Wer seine Idealform erreichen möchte, kommt um Mahlzeiten nach Plan, Küchenwaage und Uhrzeit kaum herum. Was dabei oft tabuisiert wird: Viele Sportler rutschen in und nach Diäten in eine Essstörung. Zwischen strikten Einschränkungen und ausufernden Heißhungerattacken.

Dreht sich dein Alltag um Essen und Sport? Zählst du ständig Makros und machst dir Gedanken um deinen Körperfettanteil? Verzichtest du völlig auf bestimmte Nahrungsmittel? Zugegeben, der Fitness-Lifestyle erfüllt per se einige Merkmale von Essstörungen. Und tatsächlich bergen ästhetische Sportarten wie Bodybuilding, Kunstturnen oder Tanz ein besonders hohes Risikopotenzial dafür.

„Das liegt daran, dass es in diesen Sportarten nicht ausreicht, besonders stark zu sein, weit springen zu können oder bestimmte Techniken zu beherrschen. Auch Gewicht oder Aussehen spielen eine entscheidende Rolle. Und das macht restriktive Diäten notwendig“, so Stephan Herpertz. Er ist Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am LWL-Universitätsklinikum der Ruhr-Universität Bochum.

„Unnatürliche“ Ziele als Problemfaktor

Die Problematik dabei: Das Ziel – zum Beispiel ein KFA unter zehn Prozent – hat mit der „natürlichen“ Körperkonstitution meist wenig gemein. Herpertz: „Um es trotzdem zu erreichen oder sogar zu halten, befinden sich Körper und Geist in einem ständigen Konflikt. Die Nahrungsaufnahme muss immer in irgendeiner Form eingeschränkt werden. Natürliche Signale wie Hunger werden durch kognitive Kontrolle missachtet.“ Ein Zustand, der in eine Essstörung wie Bulimie, Binge Eating (Fressattacken) oder Magersucht übergehen kann.

Auch für Fachärztin Theresia Tiller vom Therapiezentrum intakt sind Diäten häufig Auslöser für Essstörungen. „Sie erhöhen das Erkrankungsrisiko vor allem dann, wenn die Gewichtsabnahme schnell erfolgt, dafür viel Anerkennung von außen kommt und wenn es erlaubte sowie nicht erlaubte Lebensmittel gibt. Allerdings stellt sich nach dem Henne-Ei-Prinzip immer noch die Frage, ob Menschen, die zur Entwicklung einer Essstörung neigen, nicht besonders gerne Diäten machen.“

Gestörtes Essverhalten weit verbreitet

Aber ab welchem Zeitpunkt spricht man von einer Essstörung? Das kann schwer verallgemeinert werden. Die Grenzen zwischen sportgerechter Ernährung, gestörtem Essverhalten und einer handfesten psychischen Erkrankung verlaufen fließend. Als völlig „normal“ gilt es laut Experten, wenn Nahrungsmittel oder Mahlzeiten keine Ängste und Befürchtungen auslösen – wenn also zum Beispiel auch mal eine übergroße Portion Kohlenhydrate ohne schlechtes Gewissen genossen werden kann.

Viele Fitness-Sportler sind davon weit entfernt. Alleine schon wegen der Disziplin, mit der auf die gewünschte Optik hingearbeitet werden muss. Der größte Druck lastet dabei naturgemäß auf Athleten: Sie bereiten sich über viele Monate akribisch auf einen Wettkampf vor und haben Kalorien, Makros und Mikros ständig im Blick. Die Diät ist hart, das Trainingspensum ebenso, Ausnahmen gibt es keine.

Auch wenn die Wettkampf-Phase überstanden ist, bleibt die psychische Belastung hoch: Denn nach dem großen Glücksmoment auf der Bühne, dem vielen Lob und dem Zuspruch, muss die mühsam erarbeitete Form (Stichwort veränderte Selbstwahrnehmung) wieder aufgegeben werden. Dazu kommt gesellschaftlicher Druck, zum Beispiel durch soziale Medien. Da wundert es kaum, dass der Weg zurück in den Alltag oft mit einem Wechselspiel aus Verzicht und Fressattacken gepflastert ist.

Knapp jede fünfte Sportlerin krank

„2015 haben wir im Zuge einer Studie bei 17 Prozent der Frauen aus ästhetischen Sportarten Essstörungen festgestellt. Zum Vergleich: Bei der Gruppe der Ballsportlerinnen waren es ‚nur’ drei Prozent“, erzählt Herpertz. Wie hoch der Anteil im Fitnessbereich ist, wo es hauptsächlich um die Optik geht, lässt sich nur erahnen. Hier dürften aber auch überdurchschnittlich viele Männer zu den Betroffenen zählen.

Was tun? Laut Herpertz müsse man im Leistungssport vor allem bei den Trainern ansetzen, deren Verhalten und Methoden das Essstörungsrisiko stark beeinflussen. Generell rät der Klinikdirektor: „Wenn sich das Leben nur noch ums Essen und das Gewicht dreht und das als Belastung empfunden wird, ist professionelle Unterstützung sinnvoll.“

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